ZU DEN GRAPHIK-SKULPTUREN KRISTIN GROTHES

ein Text von Jens Rönnau

Wenn man die Tiefdruckgraphik noch einmal neu erfinden kann, dann hat es in den letzten Jahren Kristin Grothe getan. Ja, die Wahl-Neumünsteranerin, die ihr Handwerk bei Meistern der Drucktechnik in Deutschland, England und Italien gründlich erlernte, hat die Kaltnadel- und Radiertechnik nicht nur weiter entwickelt, sondern sie ist in einen schöpferischen Dialog mit ihnen getreten, der hinterfragt und fortgestaltet bis hin zur weitgehenden Zerstörung des konventionell Produzierten, um Raum für neuartige Bilder und Wahrnehmungen zu schaffen.

Architektur und Landschaft sind dabei immer wiederkehrende Themen der Künstlerin - in ihren Graphiken und graphischen Bildern wie auch in ihren Installationen, die von dialogischen Bildwerken bis hin zu massiven Objektpräsentationen reichen. Dass sie dabei immer wieder für Überraschungen gut ist, zeigen ungewohnte Orte und Arten der Präsentation wie auch ihre jüngste Installation mit sortierten Resten eines abgerissenen Stadtviertels in Neumünster.

Als ich den großformatigen Blättern von Kristin Grothe zum ersten Mal auf einer Landesschau begegnete, musste ich gleich unwillkürlich an die barocken Architektur-Darstellungen des Giovanni Battista Piranesi (1720-1778) denken. Besonders die "Carceri", jene monumentalen Phantasie-Kerkerarchitekturen dieses italienischen Kupferstechers, Archäologen und Architekten, lassen durch ihre Dimensionen den Menschen klein und bedrückt erscheinen. Dass Piranesi auch durch die Kulissenmalerei für Theater beeinflusst war, kommt in jenen Kupferstichen wohl am deutlichsten zum Ausdruck.

Irgendwie hat sich diese Piranesi-Stimmung in den Blättern Grothes bis heute erhalten. Da gibt es menschenleere Darstellungen von Industriehallen und Industrielandschaften mit gigantischen Wirkungen: Kleinteiliges steht gegen Hochaufstrebendes, architektonische Konstruktion gegen flirrendes Licht. Scharfe Hell-Dunkel-Kontraste brechen jeden Anflug von Beschaulichkeit, der sich in der Rezeption solcher Szenerien durchaus einstellen kann - denn das Betrachten und das Erleben des Technisch-Morbiden hat sich längst in unserem Kulturkreis etabliert.

Schon im mittelalterlichen Rom gab es Klagen gegen den Materialraub aus antiken Gebäuden, weil die Anschauung des Historischen so ausgelöscht würde. In der Renaissance entdeckte man dort die alten Wandmalereien in verschütteten Kellern von Neros Domus Aurea, was Maler wie Pinturicchio (1454 - 1513) und Raffael (1483 - 1520) inspirierte, diese als Vorbilder in ihre Gemälde zu integrieren. Die niederländischen Maler und Graphiker des 16. und 17. Jahrhunderts, wie Jan van de Velde (1568 - 1623) oder Rembrandt Harmenszoon van Rijn (1609 - 1669), integrierten gern verfallene Bauwerke in ihre idyllischen Bilder. Daran, dass solche Werke für den breiten Kunstmarkt gedacht waren, lässt sich ablesen, dass zu jenen Zeiten der Genuss des Morbiden zum allgemeinen Kulturgut zählte. Im Barock lässt sich das ebenfalls in der Mode der Errichtung von Grotten in Landschaftsgärten ablesen. Zu den berühmtesten Ruinenmalern zählen schließlich Caspar David Friedrich (1774 - 1849) und sein Freund Carl Gustav Carus (1789 - 1869), deren halb verfallene Kirchenbauten in Wald und Mondschein zu Inbegriffen der Romantik wurden.

Die schrecklichen Weltkriege des 20. Jahrhunderts mit ihren umfassenden Zerstörungen rückten den Begriff des Ruinösen zwangsläufig in den Bereich des Apokalyptischen, was sich besonders nach dem Zweiten Weltkrieg in zahlreichen Kunstwerken aller Art niederschlug und insgesamt eine neue Blickweise heraufbeschwor. Das lässt sich etwa festmachen an der 1980 erschienenen Publikationen "Ruinen-Faszination in der Graphik des 16. Jahrhunderts bis heute" von Jeannot Simmen, dessen Abhandlung bis hin zu moderner Architektur mit Ruinen-Elementen reicht.

Immer wieder gibt es seitdem Künstler, die sich mit den Ruinen von Kriegsbunkern befassen. Dazu zählen die Bleimodelle des Joachim Bandau (geb. 1936), die Zeichnungen und Abhandlungen des Philosophen Paul Virilio (geb. 1932), die textbeleuchteten Bunkerreste des Atlantikwalls in Dänemark von Magdalena Jetelowa (geb. 1946) oder die künstlerische Auseinandersetzung mit der Ruine des Kieler U-Bootbunkers "Kilian", etwa in Gemälden von Harald Duwe (1926 - 1984) oder in Konzepten des Objektkünstlers und Spurensammlers Raffael Rheinsberg (geb. 1942).

Seit den 1990er Jahren hat sich eine weitere Form der Ruinenfaszination etabliert, die auf fotografischen Streifzügen durch verfallene Gebäude und Industrieanlagen basiert. Sie findet ihre Plattformen nicht nur in zahlreichen Beiträgen der verschiedenen Medien, sondern vor allem in stetig wachsenden Internetforen wie "Lost Places". Das sind schließlich auch moderne Formen von Archäologie der jüngsten Vergangenheit.

In diese Entwicklung lassen sich die graphischen Arbeiten von Kristin Grothe einordnen, wobei in ihrem Fall weitere Strömungen der Kunst der letzten 50 Jahre von Bedeutung sind. Doch die formal deutlichsten Bezüge mit phantasievollen Raumentwicklungen liegen sicher in den "Carceri" des Piranesi. Da sind zum einen die frühen Blätter von 2003, in denen Grothe mit Computerdrucken nach Fotografien und Zeichnungen arbeitet (Abb. S. 50 - 53). Deutlich steht hier die Architektur im Mittelpunkt, in diesem Fall bildet die venezianische Kirche San Simeone Piccolo aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Ausgangspunkt der Graphik. Das markante Bauwerk im Stadtteil Santa Croce stellt sich indes so dar, wie es der normale Tourist nur ungern abgelichtet hätte - nämlich eingerüstet für Sanierungsarbeiten. Für Kristin Grothe war allerdings bereits für ihre Foto- und Zeichenstudien genau dieser Aspekt wesentlich: Das historische schöne Gebäude, das durch die neue Architektur des Baugerüstes teilweise verstellt wird, dessen runde Formen durch die schlanken Metallträger horizontal und vertikal gebrochen werden.

Hier setzt das gestalterische Interesse von Kristin Grothe ein, das sich am Formalen festmachen lässt, am Spiel der Liniengefüge, aber auch am störenden Eingriff in das Gewohnte. Die Varianten zeigen immer wieder das Grundmotiv der Kirche mit ihrem Gerüst, markant auch eines der Portale. Dabei wird mal ein Detail wie eine Spiegelung wiederholt, das Portal etwa oder das Gerüst, dann wieder gibt es verwischende dunkle Überlagerungen. Technisch gesehen handelt es sich um den Computerausdruck eines Fotos mit dem Hauptmotiv, das dann wiederholt von Radierungen desselben Motivs überdruckt wurde. Teilweise tauchen aber auch andere Teile auf, eine Säule etwa, deren Vorbild Grothe in Florenz gefunden hatte.

Jenes Spiel mit italienischen Formen, das in den beschriebenen Fällen noch deutlich collagehafte Züge trägt, verfeinerte sie in der Folge. 2002 hatte Grothe ihr dreijähriges Stipendium in Mailand beendet und sich in Neumünster niedergelassen. 2003 widmete sie sich in einer ihrer großformatigen Radierungen den historischen Maschinen im Depot des Neumünsteraner Museums für Tuch und Technik (Abb. S. 18, 19). Wieder begeistert sich die Graphikerin für die Vielfalt der Technik wie auch für die gitterförmigen Strukturen der Architektur. Wieder setzt sie teils Computerplots nach einer Radierung mit dem Innenraumbild dieses Gebäudes als Grundlage, wieder druckt sie die Radierplatten mehrfach und teils abgedeckt in Ausschnitten, bis sie irgendwann die Arbeit für fertig erklärt.

Am Umgang mit der Graphik zum Neumünsteraner Museum lässt sich gut die weitere Entwicklung bei Kristin Grothe verfolgen. Dasselbe Motiv behandelt sie im gleichen Jahr zusätzlich durch nachträgliche Bearbeitungen (Abb. S. 8). Zunächst fügt sie der für den Druck fertig eingefärbten Platte durch Auftragen von weiterer Druckfarbe mit Pinseln einmalige Spuren hinzu, die dann im Druck als Monotypie erscheinen. Hier geht sie dann abermals hinein, indem sie mit schwarzer dünnliniger Kreide neue Strukturen hinein zeichnet oder dunkle Stellen verstärkt. Dann aber folgt - auch im Wechsel mit dem Zeichnen - ein weiterer und völlig neuartiger Arbeitsgang, den Grothe erstmalig 2002 noch in Italien in der Darstellung einer Industrielandschaft angewandt hatte (Abb. S. 9): Es kommt Schleifpapier zum Einsatz, mit dem dunkle Partien teilweise aufgehellt werden, indem das helle Büttenpapier wieder freigeschmirgelt wird. Dabei wird das Schleifen mehr oder weniger intensiv vollzogen, wodurch an manchen Stellen alte Strukturen noch durchscheinen, während sie woanders vollständig ausgelöscht werden.

Mit dem Prozess des Schleifens hatte die Künstlerin einerseits auf dem Papier das fortgesetzt, was in der Bearbeitung der Druckplatte schon öfter zum Einsatz gekommen war. Denn gerade die Kaltnadeltechnik, welche die notwendigen Vertiefungen in der Druckplatte durch allerlei spitze Geräte schafft, kann sehr erfinderisch machen. Andererseits wendet sie durch den umgekehrten Prozess des Entfernens bereits gedruckter Bildteile das Prinzip der Decollage an, das um 1950 in Form von Plakatabrissen von dem Franzosen Raymond Hains (1926 - 2005), dem Italiener Mimmo Rotella (1918 - 2006) und weiteren begründet worden war. Parallelen zu solch skulpturalen Vorgehen lassen sich auch in der Malerei finden, etwa in den Bilderschnitten des Lucio Fontana (1899 -1968), in den aufgerissenen Malflächen des Antoni Tąpies (1923-2012) oder in den mühevollen Abschabungen gemalter Flächen der Lilli Engel (geb. 1939).

Allerdings weist die Technik des Schleifens bei Grothe Aspekte auf, die über das bloße Schneiden oder Aufreißen von Bildflächen hinaus geht. Sie nutzt ihre mechanischen Eingriffe für die Umgestaltung ihrer früheren Drucke ebenso wie für völlig neuartige Bildschöpfungen, in denen die überarbeiteten Blätter zuweilen gar keine Rolle mehr spielen - und schon gar nicht die ursprünglichen Ausgangsmotive. Seien dies nun Landschaften oder die Form eines antiken Amphitheaters oder einer Industriearchitektur. Zuweilen ist ihr einzig eine kraftvolle schwarze Fläche von Bedeutung, aus der sie in äußerst langwieriger Arbeit Schicht um Schicht abträgt, meist akkurat mit Hilfe eines Lineals, oft unter Verwendung von Messern, mit denen nicht selten größere Stücke des Papiers abgeschält und herausgerissen werden. Das schafft irreal wirkende Architekturen (z.B. Abb. 31, 33, 45), aber auch völlig neue Formen, die sich monumental im Schwarz-Weiß-Kontrast darstellen (z.B. Abb. 39, 47, 55). Phantasiegebilde entstehen, die vielleicht an Schiffe oder Flugobjekte erinnern - und meist weiß es nur die Künstlerin, das hier einmal eine Landschaft zugrunde lag, die Armierungseisen einer Betonbaustelle oder die Maschine aus einem Museum.

Kehren wir zurück zu Piranesi und dem Thema Ruinen-Faszination. Raum und Zeit spielen da eine Rolle, das Entschwinden wie auch Gewalt. Doch während Piranesi, die Niederländer, die Romantiker oder die Fotografen der "Verlorenen Orte" sich auf Phantasien und Reproduktionen des Morbiden beschränken, schafft Kristin Grothe mit ihren skulpturalen Graphiken über den Vorgang des Wegnehmens und des Zerstörens zugleich Ruinen und neue Werke - sie vernichtet und erschafft in einem Zug. Sie nutzt dabei ihre eigenen Graphiken als Steinbrüche für unabhängige individualisierte Gestaltungen, die über das rein Formale weit hinausgehen. Denn ohne je eine menschliche Figur zu zeigen, sind die festen Formen der Technik nunmehr bereichert durch die lebendigen Zeichen- und Schleifspuren, welche Ergebnisse der virtuosen Aktion der Künstlerin sind - ja, man könnte die Bearbeitungen Grothes als eine Suche nach dem Menschlichen im Technischen begreifen. Damit überwindet sie die bloße Faszination am Ruinösen ebenso wie die Erstarrung vor den Zerstörungen in der Kunst nach den Weltkriegen. Ihre Graphik-Skulpturen haben dem Medium der Radierung eine spannende Variante hinzugefügt.




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