KRISTIN GROTHE: SCHICHTUNGEN

ein Text von Petra Roettig

In ihren großformatigen Radierungen und Zeichnungen löst Kristin Grothe komplexe räumliche Dimensionen in lichte Transparenzzonen auf und schafft so neue visionäre Strukturen. Wer sich für das Medium der Druckgraphik und die Vielseitigkeit seiner technischen Möglichkeiten interessiert, steht fasziniert vor diesen Arbeiten: Aus dem Bild einer unterkühlten Industriearchitektur oder einer hochaufragenden gotischen Kathedrale entstehen suggestive Bildräume, die in ihrer Vielschichtigkeit an Piranesis “Carceri“, in ihrer lichten kristallinen Form aber auch an Feiningers “Stadtlandschaften“ erinnern.

Raum und Zeit scheinen in Kristin Grothes Radierungen zu verschmelzen. Ihren großformatigen Radierungen liegen Photos oder Zeichnungen von menschenleeren Fabrikhallen oder Sakralbauten zu Grunde. Doch diese Motive sind nur der Ausgangspunkt ihrer Werke. In einem langwierigen Prozess bearbeitet die Künstlerin den Druck mit Übermalungen und Abschleifungen. Die Radierplatte ist dabei nur Basis und Vorzeichnung für die eigentliche Arbeit. Mit verschiedenen Techniken wie Bleistift, weißer Kreide und Schmirgelpapier behandelt Kristin Grothe ihre Blätter. Mit dem Kohlestift verstärkt sie dunkle Schattierungen und verdichtet Formen und Strukturen. An anderen Stellen schleift sie mit dem Schmirgelpapier gleißend helle Flächen und Linien in das Blatt. Rigoros greift sie in die Bildfläche ein, so dass an manchen Stellen die Spuren des aufgerauten, zerfetzten Papiers sichtbar werden. Kristin Grothe stören diese Verletzungen nicht, spiegeln sie doch die Kraft und Intensität ihres Vorgehens wider. Sie selbst bezeichnet dies als “Kampf“, den sie “gegen das Material“ führt, als langen “Weg des Hinzufügens und Wiederwegnehmens, das Arbeiten mit übriggebliebenen Spuren vorangegangener Arbeitsprozesse“. Auf diese Weise trotzt sie der Radierung immer neue, ungeahnte Aspekte ab. Teilweise ist dieser Eingriff so vehement, dass von dem ursprünglichen Schwarz der Radierung nur noch prismenhafte Schemen übrig bleiben. Durch diese Abschürfungen entwickeln sich Farbakzente und Grauwerte, Verschattungen oder Bloßlegungen, die es im Medium der Radierung bisher nicht zu geben scheint. Und hier entsteht jene Verwandlung des Motivs, die Kristin Grothes Arbeiten so faszinierend machen. Die ursprünglich sachlich, betont nüchterne Architekturdarstellung wird zu einer malerisch-poetischen Raumlandschaft. Wie bei einem Bühnenbild überschneiden sich zahllose Ebenen, Diagonalen scheinen ins Unendliche zu verlaufen und den Bildraum in ein rätselhaftes Refugium zu verwandeln. Viele ihrer Arbeiten entwickeln durch die geschliffenen Spuren eine Sogwirkung und Dynamik, die an die grellen Lichtblitze und visionären Überschneidungen aus Fritz Langs utopischen Film “Metropolis“ erinnern. Andere Bilder haben jene mysteriös, sich nebulös auflösende Stimmung, die wir von Whistlers Graphiken kennen. Als James McNeil Whistler 1880 erstmals seine später berühmt gewordenen Venedig-Radierungen ausstellte, war das Publikum irritiert: Statt bekannte Plätze und Kirchen wiederzugeben, hatte der Künstler die außergewöhnliche Atmosphäre der Stadt mit ihren Lagunen und Kanälen in seinen Radierungen eingefangen. Durch starke Hell-Dunkelkontraste war es ihm gelungen die stimmungsvolle, entmaterialisierte Lichtwirkung der Stadt darzustellen. Architektur und Formen verschmolzen auf seinen Radierungen zu schemenhaften Bildern. Whistler experimentierte mit Licht und Schatten und erzielte bis dahin unbekannte Impressionen in der Druckgraphik.

Kristin Grothe formuliert diese Auflösung von Natur und Raum in ihren Radierungen und Zeichnungen in einer wesentlich radikaleren Weise. Dennoch steht sie in der Tradition der berühmten peintre-graveurs, die um 1900 durch ihre eigenwillige und leidenschaftliche Herangehensweise der Radierung neue Impulse gaben. Kristin Grothe gelingt dies, indem sie gewonnene Erfahrungen beim Drucken immer wieder hinterfragt und neue Ausdrucksmöglichkeiten sucht. Das Experimentieren mit der Graphik, das Spannungsfeld von Technik und Papier auszuloten, ist für sie die eigentliche Herausforderung. “ Ich suche auf dem Blatt nach der Form“, so fasst sie dieses intensive Ringen mit der Komposition in ihren Arbeiten zusammen. Ausgehend von Photos und Skizzen, die während ihrer Reisen entstehen, zeichnet sie das Motiv auf die Platte. In teilweise bis zu zehn verschiedenen Druckvorgängen, wobei sie häufig nur Ausschnitte oder Details der Platte verwendet, führt sie diese in neuen Kombinationen und Überlagerungen zusammen. Vielfach benutzt Kristin Grothe anstelle des Papiers farbige oder transparente Folien, die diese “Schichtungen“ besonders deutlich werden lassen. So ergibt sich ein Wechselspiel von Negativ und Positiv, Verschiebungen von Texturen und Strukturen. Ganze Räume geraten auf diese Weise aus dem Lot und finden doch wieder ihren Halt in einer neuen Räumlichkeit.

In ihren zwischen 2007-2009 entstandenen Tuschzeichnungen [vgl. Kat.nr. 1] wiederholt sich dieses Motiv “gebauter“ Architekturräume. Die als Block zusammenhängenden zwölf Arbeiten sind mit roter oder brauner Tusche, mit Kohle und Buntstift überarbeitet. Die Farbigkeit verleiht einzelnen Formen eine provozierende Dominanz, Bildebenen treten hervor, andere weichen in den Hintergrund zurück. Wie riesige Kräne schieben sich die roten Strukturen über das Bild, während der schwarze Farbstift oder der Kohlestift dahinter den Zusammenhalt zu gewähren scheint. Im Gegensatz zu den früheren Zeichnungen und Schmirgelarbeiten entsteht dadurch der Eindruck einer ruhelosen, aufgerissenen Fläche.

Aus der kontrastreichen Farbigkeit des Rot-Schwarz und der Faszination für die Struktur der geätzten Radierplatten hat die Künstlerin in den letzten zwei Jahren neue Arbeiten entwickelt. Die von Säure zerfressenen Platten werden mit dem Pinsel eingefärbt und als Monotypien gedruckt. Durch die teilweise Überlagerung der Platten beim Druck ergeben sich Verdichtungen des Pigments, wodurch die Farbe an einigen Stellen pastos wird. In der Vielfalt ihres Ausdrucks und sich unterschiedlich entwickelnden “Physiognomien“ werden diese Abdrücke zu Köpfen (2009). In Schwarz oder Rot gedruckt, erhalten diese Köpfe eine rätselhafte Plastizität, wobei die ungedruckten, zerätzten Löcher sich zu neuen Formen ergänzen. Als Block zu je 36 Blättern in Schwarz und Rot gehängt [vgl. Kat.nr. 23, 24], entsteht eine Reihung, die als Serie eine ungemein suggestive Intensität entwickelt und zugleich zum Studium jedes einzelnen Blattes auffordert.

Das Spiel mit Positiv und Negativ, das Experimentieren mit den unendlichen Möglichkeiten von Druck und Form hat schließlich zu neuen, großformatigen Wandarbeiten geführt. Wie Scherenschnitte schweben die zwei großen Schädel (2009) dicht vor der Wand [vgl. Kat.nr. 20, 21, 22]. Aus hauchdünnem Holz schneidet Kristin Grothe die 2 x 2 m großen Strukturen. Das Holz wird mit einer tief schwarzen chinesischen “sumi“ Tusche eingefärbt. Dadurch entsteht jener rußige, undurchdringlich matter Ton, der die Materialität des Holzes bewahrt, gleichzeitig dem Objekt aber ein geheimnisvolles Eigenleben verleiht. Für das Rot wird Zeichentusche mit Pigment vermischt. Wie bei den Köpfen entdeckt die Phantasie des Betrachters in diesen “cut outs“ die verschiedensten Formen, vom monströsen Vanitas-Schädel bis zur Grimasse. Dass diesen merkwürdigen Anamorphosen ursprünglich die Strukturen zerätzter Radierplatten zu Grund lagen, ist nicht mehr zu erkennen. Deutlich zeigen jedoch auch diese Arbeiten, mit welcher Virtuosität, Entschlossenheit und Konsequenz Kristin Grothe die Graphik in neue Dimensionen führt.



Texte(Auswahl):

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"Graphische Kunst" 2003

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catalogo 2001 italiano

 
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