Visionärer Naturalismus: zu den großformatigen Radierungen
von Kristin Grothe
Ein Text von Elena Biaggio, 2003
In einem Zeitalter der neuen, schnellen Medien, die uns in rasantem
Tempo mit Informationen und Bildern versorgen, einer Zeit die schnelllebiger
kaum sein könnte, in der es mehr um den äußeren
Schein als die Sache an sich geht, scheint es um so erstaunlicher,
die Arbeiten der 1972 in Hamburg geborenen Künstlerin Kristin
Grothe zu verfolgen, die sich allen Tendenzen zum Trotz beharrlich
mit einer so traditionellen Technik wie der Radierung auseinandersetzt,
die im Gegensatz zu den digitalen Printmedien schwerfälliger,
kraftaufwändiger und langsamer kaum sein könnte. Und trotzdem
- oder gerade deshalb? - schaffen Grothes Arbeiten eine Faszination,
Annziehungskraft und große Eigenständigkeit in der bilderüberfluteten
(Kunst-) Welt.
Mit aller Konsequenz nähert sie sich seit zehn Jahren –
sie studierte in der Druckgrafikklasse bei Prof. Karl-Christioph
Schulz an der HbK Braunschweig, wo sie 1999 mit dem Meisterschülertitel
abschloss - dem Mysterium und den großen Möglichkeiten
dieser Technik. Dabei geht es nicht um Fragen der Vervielfältigung
oder Debatten um Original und Reproduktion, die heute vorwiegend
in diesem Zusammenhang diskutiert werden. Vielmehr geht es um die
hier ganz eigene und durch kein anderes Medium zu ersetzende Ausdruckskraft.
Betrachtet man die Arbeiten von Grothe, wird man sofort hineingesogen
in den Bann einer geballten Intensität von grafischen Strukturen.
Das kraftvolle Schwarz der Druckfarbe legt sich in unterschiedlichsten
Schichten übereinander, Reste von weggeschabten Kaltnadelspuren
schimmern als feinste Grautöne unter tiefschwarzen, heftig
gerissenen Strichen, mit denen die Nadel die Metallplatte verletzt
hat. Ein unglaublicher Nuancenreichtum von zartesten Grau- bis hin
zu tiefsten Schwärzen, denen sich immer wieder das Weiß
des Papiers als Licht dem Schatten entgegenstellt, schaffen den
Spannungsreichtum dieser Arbeiten.
Der Schichtungsprozess der grafischen Strukturen entspricht der
inhaltliche Auseinandersetzung ihrer Bildkompositionen. In der Natur
und Architektur findet Grothe den Ausgangspunkt ihrer Arbeiten.
Vor allem Reisen – Italien (Sizilien), Tunesien, Türkei
– entfachen durch neue, fremdartige Kultur, gewaltige Landschaft
und der ihr eigenen Atmosphäre den enormen Strukturenreichtum,
der ihre grafische Palette ausmacht. Das, was sich dann hinterher
im Atelier auf die Platte schichtet, sind die innersten Erlebnisse
vor beeindruckenden Bauwerken oder tiefe Empfindungen, die eine
bestimmte Situation in der Natur ausgelöst haben.
Gezielt sucht Grothe den spannenden Dialog von gebautem und landschaftlichen
Raum: Amphitheater, Stadien oder Tempelanlagen der griechischen
und römischen Antike kämpfen um ihr Dasein gegen die Zurückeroberung
durch die Natur oder leben in großer Harmonie mit ihr. Grafisch
korrespondieren hier geometrische Formen mit organischen.
Es geht Grothe nicht um die Beschreibung eines bestimmten Ortes,
vielmehr wird er zum ersten Anlass der Bildkomposition. Im Arbeitsprozess
tastet sich die Künstlerin an das endgültige Bildresultat
vor. Dabei lässt sie sowohl Befindlichkeiten des Arbeitstages
zu als auch unterschiedliche Erfahrungen von anderen Situationen
einfließen. Unterschiedliche Orte oder Erlebnisse werden durch
die Schichtungen zu einem neuen Eindruck zusammengeschweißt,
der eine neue Realität schafft, eine apokalyptische Vision,
die unendliche Räume und Möglichkeiten vor den Augen der
Betrachter offen hält.
Die Technik der Radierung kommt ihr hier zugute: Sie schöpft
die Vielfalt dieses Mediums aus und arbeitet bewusst mit der Eigendynamik
dieses Verfahrens, z.B. einer schwer zu führende kraftvollen
Nadel oder einer unterschiedlich reagierenden Säure, die eigene,
unterbewusste Spuren auf der Platte zurücklässt. Das unterbewusste
Arbeiten, das auch Zufälle erlaubt, wird an anderer Stelle
des Arbeitsprozesses mit dem kritischen und analytischen Blick
der Künstlerin zerlegt, das scharfen Auge der Künstlerin
unterzieht die Arbeiten ständig den knallharten Kompositionsregeln.
Viele Probedrucke führen so Schicht um Schicht, Neues schaffend,
Altes zerstörend und wieder durchscheinen lassend, langsam
zum Endresultat.
Immer wieder trifft man bei der Analyse von Grothes Werk auf das
Spiel der Gegensätze. Sei es die kritisch intellektuell analysierende
oder ganz emotional, dem Zufall raumlassende Arbeitsweise oder das
Gegeneinandersetzen unterschiedlichster grafischer Strukturen, das
Spiel mit Licht und Schatten, Positiv und Negativ. Messerscharfe,
metallische spitze Linien der Architektur, die sich der weichen,
organischen Form aus der Natur entgegenschieben.
In den neusten Arbeiten von Grothe wird die Architektur zum ausschließlichen
Bildinhalt. Die antiken Bauwerke weichen Tempeln der Moderne, Bauten
des Industriezeitalters. Auch hier lassen die Übereinanderschichtungen
der Strukturen neue Formen entstehen. Hier wird der visionär-apokalyptische
Blick mehr denn je heraufbeschworen, so erschreckend ragen die Türme
in den Himmel. Politische Weltereignisse türmen sich vor dem
inneren Auge auf.
Technisch hat Grothe in diesen Arbeiten ihre Kenntnisse aus der
langjährigen Auseinandersetzung mit der Zeichnung und Radierung
in beeindruckender Weise vorangetrieben, indem sie die Erfahrungen
im Umgang mit der jeweiligen Technik auf die jeweils andere überträgt
und so in der Einfachheit und Tradition der Mittel zu einem neuen
Ausdruck gelangt, der diesen Arbeiten ihre große Eigenständigkeit
verleiht.
In ihren neuen Arbeiten (ab 2002) bearbeitet Grothe die Radierplatte
mit unterschiedlichen traditionellen Techniken, beim Einwischen
der Platte dagegen nutzt sie die Erfahrungen von Monotypien und
lässt Farbe dort stehen, wo das Metall nicht verletzt ist,
umgekehrt wischt sie Stellen aus oder deckt sie ab, wo durch die
Gravur tiefste Schwärzen entstehen müssten. Sie komponiert
das Bild beim Druckprozess neu, sowohl beim Färben und Wischen
der Platte als auch beim eigentlichen Druck, denn sie findet die
endgültige Bildkomposition indem sie die Platten - manchmal
auch nur Ausschnitte davon - mehrfach auf ein Blatt druckt. Unumgänglich
dabei ist, dass sie ihrer Platten selber bearbeitet und druckt.
Und sie treibt das Spiel noch weiter, indem sie hinterher das mehrfach
überdruckte Blatt mit dem Kohlestift überarbeitet, sie
hat so die Möglichkeit, Stellen zu intensivieren oder aber
mit dem Schmirgelpapier bereits irreversible Spuren des Druckes
auf dem Blatt wieder zu vernichten.
Damit führt sie die Technik der Radierung im Sinne der Möglichkeit
der Bildvervielfältigung ad absurdum, die entstehenden Arbeiten
sind Unikate.
Weiterhin druckt sie ihre Industriemonumente über großformatige
Ausdrucke des Plotters basierend auf von ihr am Computer bearbeiteten
Details ihrer Arbeiten oder Fotos, die dann von neuem bearbeitet
werden.
Was das Endresultat auszeichnet, ist die Einheit der unterschiedlichen
Techniken. In ihrer Verschmelzung liegt wohl das Geheimnis dieses
Reichtums des grafischen Formenrepertoires, die wahnsinnige Kraft,
die Grothes Arbeiten ausstrahlen und die eigentümliche intensive
Stimmung, die diese Arbeiten erzeugen, die Emotionen und Visionen
heraufbeschwören. In der Tradition des Mediums wird Neuheit
geboren.
In den Diskussionen um Original und Reproduktion, Scharlatanerie
durch technischen Effekt und den Überlegungen zur Daseinsberechtigung
der alten Reproduktionstechniken in einer von digitalen Printmedien
dominierten Zeit beziehen die Arbeiten von Kristin Grothe klar Stellung.
Es wird sich lohnen, die Arbeiten dieser intensiven Künstlerin
im Auge zu behalten.
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