Kristin Grothe –Arbeiten der Jahre 2002 bis 2006

ein Text von Uta Kuhl, 2006

Die Bilder von Kristin Grothe sind von einer Präsenz, dass man als Betrachter sofort in ihren Bann gezogen ist. Sie sind, selbst im kleinen Format, vor allem aber in den großen Formaten, in denen die Künstlerin bevorzugt arbeitet, von raumfüllender Kraft. Dennoch drängen sie sich nicht auf. Vielmehr fordern sie den Betrachter auf, sich ihnen zu nähern und sie zu erforschen. Wie ein rätselhaftes Dickicht, durch das an manchen Stellen ein Lichtstrahl fällt, das an anderen Stellen aber beinahe undurchdringlich scheint, stehen sie uns gegenüber und wollen ergründet werden.
Unser Blick wandert über komplexe Strukturen, die teilweise von unerhörter, fast transparenter Zartheit sind, teilweise aber auch von einer Dichte und Vielschichtigkeit – im eigentlichen Sinn des Wortes –, dass sich eine fast undurchschaubare Schwärze ergibt. Spannungsvolle Gegensätze kennzeichnen die Bilder: Neben den Kontrast von Schwarz und Weiß, von dunklen zu lichten Partien, tritt der Gegensatz von dichten, gestischen Strichlagen zu behutsam gezeichneten feinen Gebilden; von Expressivität zu fast meditativer Bedachtsamkeit. Partien, die wie ein dichtes Geflecht wirken, stehen neben filigraneren Partien, die an Zellstrukturen unter dem Mikroskop erinnern.

Eine genauere Betrachtung enthüllt den motivischen Ursprung der vielschichtigen Bilder. Denn auch wenn die meisten Arbeiten von Kristin Grothe zunächst wie abstrakte Kompositionen wirken mögen, sind doch alle Bildmotive von konkreten Gegenständen abgeleitet. In der Regel sind es Raumeindrücke, die sie zu ihren Visionen anregen: Landschaften, vor allem aber Architektur oder auch Industrielandschaften; die Ansicht eines großen Hafens oder das Gewirr einer Maschinenhalle, Kirchen oder Paläste. Immer sind es Stätten, die vom Menschen geprägt sind, in denen eine Gesellschaft ihre Spuren hinterlassen hat.
Ihre Inspiration findet die Künstlerin meist auf Reisen, wo in einer fremden Umgebung und in einer anderen Kultur die atmosphärische Wirkung eines Ortes sehr viel stärker zum Tragen kommt als in der vertrauten Umgebung und ihre Wahrnehmung ganz anders auf die neuen visuellen Eindrücke reagiert. Vor Ort macht sie Skizzen, Zeichnungen sowie Fotografien. Sie bilden die Grundlage für die Bilder, die dann zu Hause im Atelier entstehen; Bilder, die alles andere sind als Abbilder. Vielmehr werden Gebäude oder Ornamente, Maschinen oder metallene Gerüste zu Liniengeflechten, zu sich unterschiedlich verdichtenden Flecken, von filigranen Linien bis hin zu tief schwarzen Flächen.
Ein flirrendes Gewirr von Strichen z. B. entsteht aus einem Baugerüst, das im Bild in vielfacher Staffelung und Brechung zu sehen und so von fast skulpturaler Wirkung ist (S. 40, 41). In manchen Partien entwickelt sich daraus geradezu ein Tiefensog. In anderen Partien ergibt sich aus der Staffelung ein Gewebe, das wie eine Verhüllung über ein Grundmotiv – eine Säule, ein Gewölbe oder ein Ornament – gelegt wird.

So entsteht eine Raumdarstellung, besser: eine Raumvision, die zwar konkrete Orte zum Ausgangspunkt nimmt, sich im Prozess des Schaffens aber davon gelöst und fortentwickelt hat und zu einer Darstellung von allgemeiner Gültigkeit kommt. Wichtig ist für Kristin Grothe dabei, dass sie die Emotionen, die sie mit den dargestellten Orten verbindet, im Prozess des Arbeitens erneut erlebt – und zugleich neu, in anderer Weise, empfindet. Von der realen örtlichkeit losgelöst realisieren sie sich zu einem überzeitlich und überall gültigen Bild von menschlichen Spuren, Kulturen, Stimmungen, Begegnungen. Es ist, als ob ihre Bilder gleichsam zu einem Reservoir dieser Empfindungen würden.
Für den Betrachter ist diese intensive Emotionalität spürbar, ohne dass er den dargestellten Raum erkennen müsste. Manchmal schichtet Grothe in einem Bild Motive verschiedener Räume oder Plätze übereinander, so dass sich aus mehreren Kirchen quasi ein Ur-Bild von Kirche ableitet. über die großformatige Zeichnung der Hagia Sophia etwa sind Partien einer anderen Sakralarchitektur wie in einer Überblendung darüber gezeichnet. In dieser Verschmelzung wird das Spezifische der jeweiligen Architektur aufgehoben – auf eine allgemeinere, höhere Ebene gehoben und dabei doch bewahrt. Dies ist auch der Grund, warum die Arbeiten keine Titel tragen. So kann jeder Betrachter in den Bildern seine eigenen Ur-Räume erkennen, seine eigenen Erinnerungen in den visionären Räumen finden. Und selbst wenn er die Bilder nicht mit eigenen Assoziationen verbindet, reizen die labyrinthischen Raumkonstellationen, die manchmal geradezu wie moderne Versionen der Carceri von Piranesi erscheinen, sie zu durchdringen und der facettierten Räumlichkeit auf die Spur zu kommen.
Dabei kann es vorkommen, dass sich die Wahrnehmung von den realen Gegenständen weit entfernt. Bei manchen Betrachtern wecken die Industrielandschaften Assoziationen an Großstädte, während für andere etwas Bedrohliches von ihnen ausgeht, ein Hauch von Endzeitstimmung – Geisterlandschaften, die von menschlichem Tun, auch menschlicher Zerstörungskraft zeugen, aber menschenleer sind.

Ob bei ihren Zeichnungen, oder bei ihren druckgraphischen Arbeiten, immer arbeitet Kristin Grothe mit Schichtungen und Überlagerungen. Ihre Platten druckt sie teilweise in einer Dichte übereinander, dass die einzelnen Motive an manchen Stellen kaum noch zu entschlüsseln sind. Damit hat sie sich ein Gestaltungsmittel zu eigen gemacht, das erstmals Andy Warhol im Bereich der Serigraphie einsetzte, entwickelt dies aber fort: Neben die radierte Platte oder auch die Kombination verschiedener Druckplatten tritt die Monotypie, mit der die Künstlerin malerische Effekte erzielt. Dafür arbeitet sie direkt mit Farbe und Pinsel auf die Druckplatte; beispielsweise den berückenden Himmel über einer fast gespenstisch wirkenden Industrielandschaft (S.21).
Darüber hinaus bearbeitet sie die Blätter in einzelnen Partien mit Kohle, wodurch sie starke Kontraste von Licht und Schatten, von hellen, zarten Strukturen zu satter, tiefer Schwärze erzielt. Diese setzen sich ab von den aufgehellten Partien, die geradezu durchlichtet wirken. Was von weitem wie eine Weißhöhung erscheint, ist mit Schleifpapier aus dem Blatt heraus gearbeitet. Daraus ergeben sich Verletzungen des Blattes bis zur Erschöpfung des Materials. Furchen, Risse, ja Löcher im Papier weisen deutlich darauf hin. Im Gegensatz zu rein zeichnerischen Mitteln ergibt sich daraus eine ungleich intensivere haptische Wirkung, die den Materialcharakter des Blattes spürbar zum Tragen kommen lässt (S. 37). Ausdrücklich weist die Künstlerin selbst darauf hin, wie sehr ihr Umgang mit den Materialien, ihre Vehemenz und verletzende Kraft, zum Inhalt wird. ̶Für den Betrachtungsprozess werden Technik und Material insofern wichtig, als dass Kraft und Intensität, mit denen ich gearbeitet habe, wie auch der Kampf, den ich gegen das Material geführt habe, zu spüren sind: der lange Weg des Hinzufügens und Wiederwegnehmens, das Arbeiten mit übriggebliebenen Spuren vorangegangener Arbeitsprozesse ..."

Eine zusätzliche Dimension dieses vielschichtigen Schaffensprozesses entsteht bei einigen Arbeiten dadurch, dass die dichten strukturellen Kompositionen über motivische Bild-Untergründe gelegt sind, die wie ein Grundton das Thema des Blattes anstimmen: Es sind Motive, die Kristin Grothe fotografiert hat und mit einem neuen Fotodruckverfahren auf die Druckplatte bringt. Dabei ist ihr wichtig, dass sie diese Arbeiten selbst ausführen kann. So kann sie jedes Bilddetail bis ins Letzte selbst bestimmen. Auch diese Blätter werden freilich einer weiteren zeichnerischen Bearbeitung mit Kohle und dem Schmirgeln mit Schleifpapier unterzogen (S. 37). Bei anderen Bildern verwendet sie statt der fotografischen Bild-Untergründe Computer-Ausdrucke mit ihren feinen, gleichmäßigen Strukturen, die wie ein gleichmäßiges Rauschen im Hintergrund zu vernehmen sind und so die Grundlage bilden, auf der sich die lebhaften, zum Teil vehementen Strukturen der darüber gelagerten Bildschichten entfalten können. Welche Kombination von unterschiedlichen Techniken jedoch auch immer zur Anwendung kommt, in jedem Fall sind ihre Arbeiten Unikate.
Eine logische Konsequenz ihres Vorgehens ist die Arbeit auf Pergamentpapieren, die mehrfach übereinandergelegt das Prinzip der Schichtung in einer nuancierten Abstufung ermöglichen (S. 14). Zwar scheint die Gestaltung des unterlegten Papiers durch, aber weniger kontrastreich und scharf konturiert als auf dem oberen Blatt, so dass sich ein Effekt wie ein feiner Dunstschleier ergibt, der die Fernsicht verschwimmen lässt. Eine weitere gestalterische Möglichkeit des Prinzips der Schichtung eröffnet sich durch den Druck auf halbtransparenter Folie, wobei Kristin Grothe farbige Folien mit farblos transparenter Folie kombiniert (S. 34).

An der letztgenannten Arbeit mag zudem beispielhaft ersichtlich werden, inwiefern dem Ausstellungsraum eine Rolle bei der ästhetischen Wirkung der Arbeiten zukommt, sei es durch die Hängung, sei es durch die bewusste Einbeziehung des Umraums: Direkt auf den konkreten Ausstellungsraum bezogen war beispielsweise die Arbeit für das Kulturzentrum Salzau, wo Kristin Grothe eine Installation für das Torhaus schuf. In zwei Stelen von je annähernd sechs Metern Höhe hängte sie Plexiglas-Scheiben, die mit dem oben beschriebenen Filmverfahren bedruckt waren. Das Prinzip der Schichtung ergab sich hier einerseits durch das Hintereinander der zwei Stelen, andererseits aber durch die Einbeziehung der umgebenden Natur, die mit den Architekturmotiven der Bilder in eine faszinierende Wechselbeziehung tritt. So wurde das Torhaus von Salzau von Kristin Grothe für die künstlerische Präsentation ganz neu erschlossen (S. 68, 69).

Für die druckgraphischen Arbeiten wurde ihr Vorgehen in mehreren aufeinanderfolgenden Arbeitsprozessen schon beschrieben. ähnliches gilt auch für die reinen Zeichnungen, die die Künstlerin in zum Teil beeindruckend großen Formaten arbeitet. Auch hier legt sie Schicht auf Schicht. Mittel der Differenzierung sind die verschiedenen Stärken von Bleistift, Kohle oder Graphit, ebenso wie die sichtbar unterschiedliche Stärke des Striches, der von hauchzarten Kleinstrukturen bis zu gestisch flächigen Schraffuren variieren kann.
Ein weiteres Mittel, die verschiedenen Raumschichten des Bildes zu differenzieren, eröffnet der Einsatz von Farbe. So tritt in den jüngeren Arbeiten Kristin Grothes neben das Schwarz ein leuchtendes Rot, durch das sich bemerkenswerte räumliche Effekte ergeben (S. 47 oder S. 59). Wie eine zweite Ebene erscheint die Zeichnung in Rot vor die schwarze Zeichnung gelegt. Dies liegt einmal am Nacheinander der Arbeitsprozesse, ist zum anderen aber auch darin begründet, dass Rot in der Wahrnehmung durch den Betrachter nach vorn tritt, während Schwarz zurückweicht. Darüber hinaus ist Rot von einer besonderen Ausdruckskraft, die jeder Betrachter für sich mit unterschiedlichen Assoziationen belegen wird. Rot strahlt Kraft und Wärme aus, kann an Feuer, aber auch an Blut denken lassen. Freilich ist der Künstlerin wichtig, dass die Farbe nicht mit einer eindeutigen Symbolik belegt wird, sowenig wie sie selbst eine eindeutige Zuordnung damit verbindet. Im Gegenteil ist gerade hier ihr Vorgehen intuitiv bzw. von gestalterischen Kriterien bestimmt, so wie sie auch die einzelnen Motive und Strukturen von ihrer realen Erscheinung losgelöst ins Bild setzt, um eine ästhetisch spannungsvolle Komposition zu erzielen.
Dabei erfordert gerade das Abstrahieren von der gesehenen Natur ein sehr kontrolliertes Vorgehen, das sich in dem bewussten Einsatz ihrer künstlerischen Mittel wie auch den komplexen Kompositionen immer wieder nachvollziehen lässt. Dieses Spannungsverhältnis zwischen intuitivem und sehr bewusst kontrolliertem Vorgehen ist ein weiteres Kennzeichen ihrer Arbeiten, das sich dem Betrachter unmittelbar erschließt.

Die Vielfalt der gestalterischen Möglichkeiten, die sich aus dem motivischen Material ergeben, auszuloten, ohne beliebig zu werden, ist sicherlich auch ein Grund dafür, weshalb Kristin Grothe in der Regel in Serien arbeitet, selbst wenn ein vollendetes Bild für sich allein steht. Ein einmal „entdecktes“ Motiv wird in einer ganzen Reihe von Bildern immer wieder angegangen und so gleichsam in verschiedenen Variationen erarbeitet. Dadurch zieht sich die bildnerische Auseinandersetzung mit ihren Motiven über einen beträchtlichen Zeitraum hin, so wie auch der Schaffensprozess an einem einzelnen Bild sich über eine geraume Zeit erstrecken kann. Es ist nicht zuletzt ein wesentlicher Teil der Wirkung ihrer Bilder, dass sich dies auch dem Betrachter vermittelt - dass in ihren Bildern nicht nur Raum zur Anschauung kommt, sondern gleichsam auch Zeit im Raum erfahrbar wird.





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"Graphische Kunst" 2003

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