Natur in Vision
Ein Text von Emilia Sala, 2001
Kristin Grothe lebt seit einiger Zeit in Italien. Im Unterschied
zu anderen KünstlerInnen ihrer Generation hat ihr Weg sie nicht
zur Auseinandersetzung mit den neuen Medien geführt, sondern
ihre Arbeiten leben durch den Einsatz einfachster Materialien, wie
Bleistift, Kohle, Pastellkreide auf Papier oder traditioneller Techniken
wie die Radierung. In Deutschland, wo die Künstlerin geboren
wurde und ihre Ausbildung abschloss, entwickelte sich bereits ihre
intensive Beziehung zur Natur.
Das intensive Zuhören und Beobachten in der Natur entsprechen
dem reflektierenden, fast meditativen Zug der Künstlerin. Aus
der Natur, deren harmonische und spannungsvolle innere Strukturen
an die Komplexität der menschlichen Seele erinnern, assimiliert
Grothe mit der Kraft ihrer Imagination sowohl Stimmungen und Atmosphäre,
die eine Landschaft bestimmen, als auch menschliche Erscheinungen,
die einen Ort belebt haben. Unter dem durchdringenden Blick der
Künstlerin entmaterialisieren sich die organischen Formen bis
zur fast völligen Auflösung, raumlassend für die
beunruhigenden Schatten des Genius Loci.
Und es geschieht noch mehr. In diesen visionären Raum schleichen
sich gelegentlich architektonische Strukturen ein, die spitz und
metallisch, schneidend wie Stahlkabel in extremer Spannung, die
Natur selbst einnehmen. Wenn sie aus der Hand der Künstler-Demiurgin
erwachsen, um die Macht des Unfassbaren den Regeln der Perspektive
und der Komposition unterzuordnen, scheinen sie nur schwer imstande
zu sein, sich der dämonischen Kraft ihrer Schöpferin zu
entziehen und enden stattdessen, um ihr zu unterliegen, gleich Phantasmen
industrieller Archäologie.
Viele Geschehnisse beseelen diese imaginären Räume: hier
legt sich eine strudelnde Bewegung, ohne Halt, in mehreren Schichten
über die Umrisse eines antiken griechischen Theaters; an anderer
Stelle wird die Explosion eines naturgewaltigen Sturmes von unerwarteten
Lichtstrahlen durchbrochen oder von einem Klumpen Materie, der dort
plötzlich als vermenschlichte Präsenz inmitten apokalyptischer
Fantasien erscheint.
Es handelt sich bei Grothes Werk um einen Naturalismus, bei dem
die konkreten Formen zu undefinierten Konturen der inneren Vision
werden, und zwar durch einen grausamen Kampf, mal wild, mal spielerisch,
zwischen Licht und Schatten.
Grothe bedient sich selten der Farbe. Sie wählt stattdessen
häufiger das Schwarz der Kohle oder Druckfarbe auf der Zink-
und Kupferplatte. Und trotzdem: die Fläche, die von der Künstlerin
mit der Hitze eines Fechters angegriffen wird, als wolle sie sich
von den eigenen vehementen Gefühlen befreien, erfährt
keine chromatische Ruhe. Sie wird im Gegenteil von unwägbaren
Schattierungen des Lichts erfüllt.
Grothe zerkratzt die Oberfläche, hackt auf sie ein; manchmal
verletzt sie sie, bevor sie sich zurückzieht, um sie kurz darauf
erneut gewaltsam zu bezwingen; von Zeit zu Zeit verweilt sie davor
und durchdringt sie mit prüfendem Blick, um neue Weiß-,
Schwarz- und Grau-Vibrationen auf der Fläche auftauchen zu
lassen. Während sie die Materie quält, um sie in den ihr
eigenen ausdrucksstarken Bedürfnissen zu bezwingen, überwindet
Grothe den Horizont des Konkreten, des Sichtbaren, und schafft es,
ihn in eine Vision umzuwandeln.
Interview
Emilia Sala mit Kristin Grothe
Emilia Sala: Unter den Arbeiten, die du aus diesem Anlass
präsentierst, sind viele auf Reisen in die Türkei und
Sizilien entstanden oder im Laufe von Ausflügen mitten in die
Natur. Hierauf, und durch einen Schichtungsprozess des Gedächtnisses
und der Imagination, lagern sich spätere Erfahrungen der Wahrnehmung
und Emotion übereinander.
In welcher Weise entspringen deine Arbeiten einer konkreten persönlichen
Erfahrung?
Kristin Grothe: Den Ausgangspunkt meiner Arbeiten finde ich in
der Natur, ihrer Gewalt und unendlichen Kraft. Dass ich oft Reisen
als Grundlage meiner Arbeiten nutze, entspringt dem tiefen Beeindrucktsein
und den Emotionen, die ich an einem neuen Ort empfinde, also neuen
optischen Reizen, die ich vorher noch nicht erlebt habe. Die erlebte
Formenvielfalt der Natur wird zu meiner grafischen Palette: Wirre
Sträucher, kalte glatte Felsen, unterschiedlichste Steinstrukturen,
Wasser- und Luftwirbel werden zu Strichen, Tüpfelungen, feinsten
Liniengeflechten, völlig aufgelösten, fast unfertigen
Lineaturen von kaum wahrnehmbarer Zartheit bis zu tiefschwarzen
Tonungen.
Neben dem scheinbar äußerlichen Beobachten der Strukturen
kommt ein wichtiger Aspekt hinzu, und das sind meine Emotionen und
Gefühle, die mich an einen Ort fesseln, und die ich im Prozess
des Arbeitens neu erlebe: Kulturen, Wetter, Gerüche, Personen,
Begegnungen, Stimmungen, Ehrfurcht. Die real vorhandene Landschaft
wird so zu meiner eigenen Empfindung und nur noch Anlass des Bildes.
Aus diesem Grund tragen meine Arbeiten auch keine Titel, die auf
einen bestimmten Ort verweisen. Hinzu kommt, dass ich unterschiedliche
Orte und Plätze, die ich erlebt habe, in einem Bild übereinanderschichte,
so dass sich unterschiedliche Erfahrungen übereinander lagern.
Emilia Sala: Die suggestive Kraft des Strichs, die - unabhängig
der eingesetzten Technik - deine Arbeiten der letzten zwei Jahre
charakterisiert, lässt eine ebenso unermessliche Gewalt des
schöpferischen Gestus vermuten, sie lässt an einen ruhelosen
Kampf des Künstlers gegen Fläche und Materie denken.
Es ist gerade diese Beziehung voller Konflikte und Gegensätze,
die meines Erachtens einen Kraftpol deiner expressiven Sprache darstellt;
sie weist keinen friedlichen Dialog auf, sondern äußert
sich in den kraftvollen Spannungen, durch die deine Kompositionen
leben.
Kristin Grothe: Für mich ist es tatsächlich ein Kampf,
das Material - sei es Papier, eine Radierplatte oder sonst irgendeine
Oberfläche - mit dem jeweiligen Medium zu beherrschen und es
bis an die Grenzen auszureizen. Dabei fordern mich vor allem die
einfachen Medien heraus: Schneller oder einfacher als mit Kohle,
Bleistift oder Pastellkreide kann man kaum arbeiten. Bei der Radierung
wird der Arbeitsprozess natürlich sehr viel schwerfälliger
und komplizierter, wobei ich mich auch dort lange Zeit ausschließlich
mit der Kaltnadeltechnik beschäftigt habe, die unter den verschiedenen
Radiertechniken die direkteste ist.
Material und Technik sind in meinem Arbeitsprozess von fundamentaler
Bedeutung. Das fängt schon bei der Wahl des Papiers, besonders
seiner Oberflächenstruktur, an. Auf diesem gelben, feinkörnigen
Papier zum Beispiel rutscht die Kohle fließend über das
Blatt, sein Widerstand ist kaum zu spüren. Hier brauche ich
die Hand nur leicht über die Kohle zu ziehen, und schon habe
ich eine breite Skala von Grautönen. Der Körpereinsatz,
sei es in Form einer leichten Fingerbewegung auf der Fläche,
sei es mit dem Handrücken oder dem ganzen Arm, wird sofort
spürbar. Dieses weiße Papier hingegen fordert aufgrund
seiner groben Oberflächenstruktur, die einer Raufasertapete
gleicht, eine ganz andere Bearbeitungsweise. Insgesamt werden die
Linien und Flächen brüchiger.
Aus dieser Herausforderung, die unendlichen Möglichkeiten des
Materials zu erforschen, entsteht für mich die Lust oder das
Vergnügen am Arbeiten. Die Neugier am Material stimuliert meine
Sinne, und das intuitive Reagieren darauf - somit der eigentliche
Prozess des „Machens“ - wird zu einem entscheidenden
Schlüssel des endgültigen Bildresultats. Erst später
kommt der Intellekt hinzu.
Für den Betrachtungsprozess werden Technik und Material insofern
wichtig, als dass Kraft und Intensität, mit denen ich gearbeitet
habe, wie auch der Kampf, den ich gegen das Material geführt
habe, zu spüren sind: der lange Weg des Hinzufügens und
Wiederwegnehmens, das Arbeiten mit übriggebliebenen Spuren
vorangegangener Arbeitsprozesse, also das Überarbeiten und
Reflektieren. Erst durch diesen Prozess erhalten die Arbeiten ihre
Tiefe.
Emilia Sala: Beim Akt des Schaffens scheint es, als würdest
du eine unbezwingliche – ja auch physische – Beziehung
zur Fläche eingehen.
Kristin Grothe: Der ganze Einsatz meines Körpers ist beim
Arbeitsprozess fundamental. Das große Blattformat der Kohlezeichnungen
habe ich aus diesem Grund gewählt, denn erst auf dieser Größe
wird der Körper wichtig, und meine ganze Kraft kann sich auf
das Blatt übertragen. Das an der Wand aufgespannte Blatt verlangt
einen ständigen Wechsel von Nähe und Ferne, um die Gesamtkomposition,
aber auch die Details einzubeziehen. Man könnte fast von einem
Tanz sprechen, der durch das sich Nähern und Entfernen vom
Bild, aber auch durch die Arbeit auf dem Bild entsteht.
Im Kontrast dazu stehen die winzigen Pastellkreidearbeiten. Der
Arbeitsprozess ist hier ein völlig anderer, die Bewegungen
sind sehr reduziert, und die Nähe zum Bild ist ständig
gegeben. Das vorhin beschriebene Vergnügen an der Variation
des Materials trifft zweifellos auch hier zu, also der Reiz, auf
einer kleinen Arbeit ebensoviel geballte Spannung einzuarbeiten,
wie auf einem großen Blatt.
Emilia Sala: Die Natur stellt ein wichtiges Element sowohl
in deiner innersten persönlichen Erfahrung als auch in deiner
künstlerischen Arbeit dar. Eine ebenso wichtige Rolle spielt
die Architektur in deinem Werk. Es handelt sich um eine Architektur,
die man als quasi abstrakt bezeichnen könnte, da sich ihre
Physiognomie auf einen bloßen Wirbel scharfer Linien reduziert,
die die Funktion eines kulturellen Kontrapunktes gegenüber
dem natürlichen Element einnimmt. Tatsächlich scheint
es, als würden die architektonischen Strukturen einen Fluchtweg
aus der bedrohlichen Unordnung der organischen Materie der Natur
repräsentieren, hin zu einer beruhigenderen Ordnung der Dinge,
also auch zu einer größeren kompositorischen Harmonie.
Wie würdest du das Verhältnis der beiden zueinander beschreiben?
Wie steht die Natur zur Architektur?
Kristin Grothe: Wenn ich die emotionale Ebene des Arbeitsprozesses
verlasse und sehr bewusst die Komposition eines Bildes betrachte,
suche ich Spannung: Mir ist wichtig, dass sich Unfertiges gegen
Fertiges schiebt, Kraft gegen Zartheit, Dunkel gegen Hell; eine
spannungsvolle Variation der grafischen Palette also.
An einem bestimmten Punkt haben mir die organischen Strukturen aus
der Natur nicht mehr gereicht, und ich habe nach Formen gesucht,
die dagegen ankämpfen: gerade, geometrische Linien beispielsweise.
Ich fing an, auf Reisen Orte aufzusuchen, wo ein spannungsvoller
Dialog zwischen Natur und Architektur stattfand, Orte mit Resten
der griechischen und römischen Antike, bei denen die Natur
beginnt, ihren Raum zurückzufordern. Durch die antike Architektur
in der Natur eröffneten sich mir langsam die Formen, die ich
kompositorisch gesucht habe. Zunächst überwog noch die
Natur, dann habe ich aber Baudenkmäler erlebt, die mich in
ihrer Raumwirkung so beeindruckt haben, dass die Architektur in
einigen Arbeiten zum ausschließlichen Bildinhalt wurde.
Durch diese Erfahrungen vermischen sich beide Felder: Die architektonischen
Formen lösen sich in meinen Arbeiten häufig wieder auf
und werden organisch, umgekehrt wird eine Landschaft geometrisch,
linear geordnet.
Emilia Sala: Dort, wo sich in deiner Arbeit die Realität
von einer konkreten Gegebenheit emanzipiert, in dem Moment also,
wenn sie sich in eine Vision verwandelt, öffnen sich dem Blick
des Betrachters unendliche Räume, unendliche Möglichkeiten
der Imagination.
Kristin Grothe: In den Augen der Betrachter entstehen oft neue
Wahrnehmungen, wie eine animalische oder menschliche Präsenz,
die ich selber nicht sehe, weil sie unbewusst aus dem Arbeitsprozess
heraus auftauchen.
Dieser Schwebezustand meiner Arbeiten zwischen Erkennbarem und Nicht-Erkennbarem,
Konkretem und Unkonkretem, ist mir sehr wichtig, denn ich will keinen
bestimmten Ort beschreiben. Ich versuche hingegen, den Reiz, dem
ich vor einem Naturschauplatz und beim Arbeiten unterliege, auf
das Blatt zu bringen. Was entsteht, sind mehrdeutige Strukturenvielfalten,
die unterschiedliche Wege der Imagination eröffnen. Wenn dieser
Prozess stattfindet, paaren sich die Emotionen und Wahrnehmungen
des Betrachters mit meinen aufgelösten Eindrücken und
werden zu neuen Orten und Empfindungen.
Emilia Sala: Es wird täglich über die genetisch
modifizierte Natur diskutiert. Wie steht deine Arbeit zum Verhältnis
Mensch und Natur?
Kristin Grothe: Natur ohne menschliche kulturelle Präsenz
kann ich mir nicht vorstellen; Natur ist für mich gleichzeitig
Mensch. Dieser Dialog zwischen gewaltiger, göttlicher Natur
und Mensch ist daher in meinen Arbeiten unverkennbar.
Meine Auseinandersetzung mit dieser Problematik findet aber auf
einer sehr persönlichen, nicht auf einer politischen Ebene
statt. In erster Linie bin ich selbst es, die hier einen Dialog,
vielleicht auch einen Kampf, mit der Natur führt, es geht dabei
um Kraft und sehr persönliche Gefühle.
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